IN DER DYSTOPIE: DAS TRENNENDE TEILEN
Unaufhörliche Angriffe auf Gaza und die Zahl der getöteten Menschen wächst bis zur Unfassbarkeit. Mehr als elftausend Menschen wurden bereits getötet, während die israelischen Truppen sich immer weiter am Boden ausbreiten.
Wir haben den Brechreiz überschritten. Die Gewalt, die sich an der palästinensischen Bevölkerung entlädt, ist unvergleichlich. Die Siedler – Fundamentalisten, die die jüdische Souveränität über das gesamte biblische Gebiet von Judäa und Samaria (das heutige Westjordanland) beanspruchen – nutzen das Chaos aus und nehmen mit Billigung der Armee immer mehr Gebiete in Besitz, greifen an und töten unbehelligt.
Die Eskalation ist so weit fortgeschritten, dass sie sogar auf jüdisch-israelische Aktivisten schießen, die von Siedlern bedrohte palästinensische Dörfer schützen, und deren bloße Anwesenheit bislang eine relativ wirksame Abschreckung darstellte.
Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft werden verhaftet, weil sie einen Beitrag geliked oder Empathie für die Gaza-Bewohner gezeigt haben, sie werden von ihren Arbeitsplätzen oder Universitäten verwiesen, während ein Mob wildgewordener Rechtsextremisten die Wohnheime, in denen palästinensische Studenten in Netanya wohnen, unter dem (wohlwollenden?) Blick der Polizei belagert.
Friedensaktivisten werden inhaftiert, weil sie Plakate aufgehängt haben, die zu jüdisch-arabischer Solidarität aufrufen, vier Palästinenser und israelische linke Aktivisten werden von einer Gruppe aus Siedlern und Soldaten im Westjordanland festgehalten und misshandelt, der israelische Journalist Israel Frey, der sich für das Ende der Besatzung und das Recht der Palästinenser einsetzt, erlebt, wie sein Haus von Rechtsradikalen angegriffen und sein Leben bedroht wird, während die Regierung neue Maßnahmen vorschlägt, die es der Polizei ermöglichen, mit scharfer Munition auf demonstrierende israelische Bürger zu schießen, und Itamar Ben Gvir, Minister für nationale Sicherheit, automatische M5-Sturmgewehre an die Freiwilligen der neuen Einheit der Zivilgarde verteilt – man darf dabei nie vergessen, dass Ben Gvir ein faschistischer Kahanist ist und dass eine Zivilgarde unter seiner Kontrolle mit Schrecken an die Gestapo in Nazi-Deutschland erinnert. In diesem autoritären Klima bahnt sich ein Bürgerkrieg an, der sich bereits im Mai 2021 abzeichnete und in dessen Verlauf es zu beispielloser Gewalt innerhalb der Zivilbevölkerung gekommen war.
Eine Demonstration, die einen Waffenstillstand und Geiselaustausch forderte, fand dennoch in Tel Aviv statt, wie die Fotos von Oren Ziv, Reporter für 972mag, einer unabhängigen israelisch-palästinensischen Zeitung und Fotograf für ActiveStills, belegen, und wurde von dem Anti-Besatzungs-Aktivisten Yahav Erez mit folgender Botschaft weitergeleitet: “Ihr werdet nie wissen, welche Art von Mut es braucht, das [zu demonstrieren] jetzt zu tun.”
In der Tat sind die Zeiten schlimm, die Not der israelischen Linken ist riesig, die Not der palästinensischen Bürger Israels noch größer (doppelt Opfer, von Hamas-Raketenschläge, Gewalt durch den israelischen Staat und diese rechtsextremen Zivilisten), die Not der Palästinenser im Westjordanland und in Ostjerusalem unbeschreiblich und die Not der Menschen in Gaza unermesslich.
Und als ob diese Aneinanderreihung von Schrecken nicht schon genug wäre, beginnt auch der Rest der Welt in diesem neuen Informationskrieg zu trommeln. In den sozialen Netzwerken erreicht die Propaganda ihren Höhepunkt und jede Information muss mit Vorsicht genossen werden, wenn man die erschreckende Menge an Fake News oder Halbwahrheiten betrachtet, die innerhalb von Minuten in den Netzwerken zirkulieren und sich verbreiten.
Die gleiche Rhetorik wird auf beiden Seiten verwendet und die gleichen Entmenschlichungsprozesse werden in Gang gesetzt. So zirkulieren zahlreiche Posts, die uns auffordern, auf der “guten Seite der Geschichte” zu stehen, wobei die Ironie darin besteht, dass beide Seiten ihre Version der Realität und damit der angeblich “guten” Seite anbieten – eine kognitive Dissonanz für diejenigen, die Palästina am 7. Oktober 2023 entdeckt haben.
Das Video mit der Aussage von Yocheved Lifschitz, einer der von der Hamas festgehaltenen Geiseln, die am 23. Oktober freigelassen wurde, wird seziert. Einige zeigen nur den Teil, in dem sie erzählt, dass sie während ihrer Gefangenschaft gut behandelt wurde, andere nur den Teil, in dem sie erzählt, dass sie mit einem Stock geschlagen wurde, als sie gefesselt auf dem Rücksitz des Motorrollers eines Hamas-Kämpfers saß, der sie nach Gaza transportierte. Alle weigern sich, entweder die Brutalität des Hamas-Angriffs oder die Brutalität der israelischen Besatzung anzuerkennen. Dies zeugt von der Unfähigkeit, die mögliche Güte des Feindes und die mögliche Grausamkeit des Verbündeten zu erkennen, und schafft so nuancenlose Wesen, die zu homogenen Blöcken “alle Siedler” / “alle Terroristen” gehören, die weder Empathie noch Kontextualisierung verdienen und jede Hoffnung auf Verhandlungen zunichte machen.
Ebenso werden von der pro-palästinensischen und der pro-israelischen Seite in jeder Hinsicht ähnliche Stilmittel verwendet: “Ich habe mir immer gesagt, dass die Naqba verhindert worden wäre, wenn sie im Zeitalter der sozialen Netzwerke stattgefunden hätte, heute weiß ich, dass dem nicht so ist” steht gegenüber “Ich habe mich immer gefragt, wie die Menschen den Holocaust haben geschehen lassen, ohne zu reagieren, nach dem Massaker vom 7. Oktober und den Reaktionen, die es hervorgerufen hat, ist mir das heute klar”. Das unendlich Traurige an diesen beiden Zitaten ist, dass sie beide richtig sind und dass sie, obwohl sie einen gemeinsamen Feind – Rassismus, ethnische Säuberung und Völkermord – anprangern, gegen ihren Bruder im Kampf eingesetzt werden, um ihn zu diskreditieren, anstatt angesichts des Imperialismus und der extremen Rechten, die seit Jahrhunderten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben und begehen, zusammenzuarbeiten.
Es ist ein regelrechter Wettlauf um die Entmenschlichung, der durch die sozialen Netzwerke erleichtert wird, in denen die Unterstützer Israels hemmungslos die Aufnahmen eines Hamas-Kämpfers am Telefon mit seinem Vater verbreiten, der begeistert verkündet, dass er “zehn Juden mit seinen eigenen Händen getötet” hat, sowie Videos von pro-palästinensischen Demonstranten in Australien, die “gas the jews” skandieren, oder die Videos mit den Europäern, die die Poster der Hamas-Geiseln abreißen oder sie durch neue Poster ersetzen, die in jeder Hinsicht identisch sind, außer dass das Wort “kidnapped” durch “occupier” ersetzt wurde. Parallel dazu verbreiten die Palästina-Unterstützer die schändlichen Videos einiger israelischer TikToker, die sich über die bombardierten Gaza-Bewohner lustig machen – ohne Wasser und Strom, über singende und im Chor tanzende IDF-Soldaten oder auch Szenen von abscheulichen Erniedrigungen von Palästinensern, die von israelischen Soldaten festgehalten werden. Schließlich wurden in völliger Konfusion von beiden Seiten Videos vom Flughafen der russischen Region Dagestan verbreitet, der von einem blutrünstigen Mob überrannt wurde, der auf der Suche nach Israelis (oder auch Juden) war, die gelyncht werden sollten, nachdem er von der bevorstehenden Ankunft eines Fluges aus Tel Aviv erfahren hatte.
An dieser Stelle wird es notwendig, zu schreiben, um sich an die Linke zu wenden.
Die Rechte, die den völkermörderischen Angriff auf Gaza durch die israelische Regierung weiterhin als “Verteidigung” bezeichnet, ist ein politischer Feind, mit dem ich nicht mehr zu argumentieren versuche. Die sich gegen einen Waffenstillstand ausspricht, während wir auf das Wort genau miterleben, wie ein Völkermord an der Bevölkerung von Gaza definiert wird, von deren 2,3 Millionen Einwohnern mehr als 11.000 getötet und 1,3 Millionen vertrieben wurden, wobei fast 50% der Häuser zerstört wurden und es kein Wasser, keine Nahrung und keine Elektrizität mehr gibt. Ich lade Sie ein, die Berichte der Journalisten zu lesen, die aus Gaza berichten: Mohammed Zaanoun und Plestia Alaqad. Diejenigen, die immer noch über “Selbstverteidigung” diskutieren, sollen sich vor ihrem Gewissen verantworten.
Ich schreibe also, um mich an die Linke zu wenden, meine objektiven Verbündeten.
Denn wenn die Linke sich auf die Seite ultragewalttätiger, offensichtlich rassistischer Gruppierungen stellt und diese abfeiert, wenn sie Aufrufe zu Hass und enthemmter Gewalt verbreitet, dann packt mich das Entsetzen. Die Instagram-Seite decolonizethisplace veröffentlicht nämlich Videos vom Flughafen in Dagestan mit der Überschrift “No home for genocidal settlers”, der Beitrag wird später wahrscheinlich aus Angst vor dem Backslash der antisemitischen Gewaltverherrlichung gelöscht. Am nächsten Tag veröffentlichte sie jedoch in der Story einen Link zu einer Charta des palästinensischen Widerstands, die viele unbestreitbare Wahrheiten enthält, aber auch erklärt, dass der pro-palästinensische Kampf nicht Gleichheit, sondern die Vertreibung aller Juden aus dem Gebiet anstrebt. Sie fordern daher, ein Unrecht, das das koloniale Europa den Palästinensern zugefügt hat, indem es die Schaffung einer nationalen jüdischen Heimstätte in Palästina erlaubte (nicht zu vergessen, um das Unrecht des Holocausts wiedergutzumachen und das “jüdische Problem” in Europa loszuwerden), durch ein neues Unrecht wiedergutzumachen, das Unrecht einer “umgekehrten Naqba”, bei der alle Zionisten (in diesem Fall schwer von Juden zu unterscheiden), die sich in dem Gebiet befinden, gehen müssen – aber wohin?”. No home for genocidal settlers”.
Wenn man den gerechten Kampf der Palästinenser als ein neues nationalistisches, autoritäres und supremacistisches Projekt begreift, lässt man nur zu, dass sich die Geschichte auf unbestimmte Zeit wiederholt, wobei die Protagonisten immer wieder ausgetauscht werden.
Die Mehrheit der in Israel lebenden Israelis sind Flüchtlinge oder Nachkommen von Flüchtlingen aus Europa, Nordafrika oder dem Nahen Osten. Sie wurden in allen Teilen der Welt einer systematischen ethnischen Säuberung unterzogen. Von den 109.000 Juden, die 1948 in Tunesien lebten, sind heute noch 1.200 übrig. Diese Menschen verließen ihr Land nicht spontan, ließen ihre Kultur und Sprache aus Begeisterung für den Zionismus zurück, sondern verließen es aufgrund von Unterdrückung, beispielloser Gewalt als Reaktion auf den Sechs-Tage-Krieg 1967 in Israel. Auch hier wiederholt sich die Geschichte, als im Zusammenhang mit dem aktuellen Krieg die Synagoge von El Hamma in Brand gesteckt wird.
Es wird viel über den algerischen Unabhängigkeitskrieg gesprochen, um Parallelen zum palästinensischen Kampf zu ziehen. Dabei wird wissentlich oder unwissentlich ausgeblendet, dass viele Juden in der FLN waren und dass alle von ihnen mit der Drohung “Koffer oder Messer” aus dem Land vertrieben wurden, die den algerischen Juden noch im Gedächtnis haften geblieben ist. Von 150.000 am Vorabend der Unabhängigkeit sind heute noch null übrig. Dasselbe geschah in Libyen, im Irak, im Jemen, im Iran etc. Die Liste ist lang. Der Fehler, den viele machen, ist, die Tatsache zu ignorieren, dass die jüdische Bevölkerung, die in Israel oder im besetzten Palästina lebt, wie auch immer man es nennen will, keine Heimat hat, in die sie zurückkehren könnte. Die in der Westbank lebenden Siedler sind illegale Besatzer, echte Siedler, und sie praktizieren eine trostlose Apartheid gegenüber der palästinensischen Bevölkerung, die sie gewaltsam vertrieben haben
Die Naqba, die brutale Vertreibung von 800 000 Palästinensern im Jahr 1948, die seitdem andauernde Besatzung, die Landnahme im Westjordanland, die Blockade und Bombardierung des Gazastreifens, die ständige Erniedrigung, Unterdrückung und Entmenschlichung der Palästinenser erfordern Wiedergutmachung. Sie würde in erster Linie durch die Räumung der Siedlungen, die Öffnung des Gazastreifens und das Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge von ‘48 erfolgen. Die einzige Möglichkeit, die den beiden Völkern bleibt, ist die Schaffung eines binationalen Staates. Viele wissen das, und ich lade Sie ein, das unbestechliche und mehr als bewundernswerte Wort von Rima Hassan zu hören, einer Palästinenserin, die in den syrischen Flüchtlingslagern geboren wurde, französische Staatsbürgerin ist und eine der wenigen vernünftigen Aussagen gemacht hat, die man in den letzten Wochen gehört hat. Dafür wird sie hemmungslos fremdenfeindlichen, rassistischen und sexistischen Belästigungen ausgesetzt.
Es ist wichtig zu verstehen, dass antijüdischer Rassismus nur das Narrativ der israelischen Regierung bekräftigt – dass die ganze Welt antisemitisch sei. Es ist äußerst wichtig zu verstehen, dass die Forderung, alle Juden aus Palästina zu vertreiben, nur die israelische Hasbara (wörtlich: Erklärung; Propaganda) verstärkt, die besagt, dass die Palästinenser alle die Auslöschung der Israelis wünschen und dass der einzige Weg, sie in Schach zu halten, darin besteht, die eiserne Faust gegenüber der palästinensischen Bevölkerung beizubehalten. Es ist von größter Wichtigkeit zu verstehen, dass man nicht gegen Rassismus kämpfen kann, indem man Rassismus an den Tag legt. Dass man dem Imperialismus nicht mit einem imperialistischen Projekt entgegentreten kann. Man kann sich nicht über den Prozess der Entmenschlichung einer Gruppe empören, indem man ihn auf eine andere Gruppe überträgt. Es ist entscheidend zu verstehen, dass der Supremacism weder eine Nationalität noch Grenzen kennt und dass er in all seinen Formen vernichtet werden muss.
Eine Ungerechtigkeit kann nicht durch eine andere wiedergutgemacht werden. Genau das wurde 1948 getan, und wir sehen die traurigen Schäden, die dadurch entstanden sind. Wiedergutmachung, Rückkehr, Gleichberechtigung und Koexistenz.
Freedom for all, from the river to the sea.
Dieser Text wurde am 30.10.2023 verfasst, die Zahlen wurden aktualisiert, dennoch deckt der Artikel nicht die Ereignisse nach dem 30. Oktober ab. (https://bonustracks.blackblogs.org/2023/11/20/in-der-dystopie-das-trennende-teilen/)
Erschienen am 20.11.2023 auf Lundi Matin, ins Deutsche übertragen von Bonustracks. Von Noor Or wurde bereits “Die Übelkeit” auf deutsch auf Bonustracks veröffentlicht.